Ein Beitrag von Thomas Rempfler, Schweizerischer Nationalpark, 26. Mai 2025
Der Schweizerische Nationalpark (SNP) eignet sich ausgezeichnet als Sommerlebensraum für Hirsche. Das ist längst bekannt. Ebenso, dass er als Winterlebensraum unbeliebt ist. Wir haben uns nun speziell der dritten räumlichen Dimension gewidmet und untersucht, welche Höhenlagen die Hirsche im Jahresverlauf bevorzugen. Dazu haben wir Daten von Hirschen im und um den Nationalpark ab 2009 bis heute analysiert. Sie stammen von 111 Tieren, die wir zusammen mit der Bündner Wildhut zwischen Martina und La Punt sowie in der Val Müstair besendert haben.
Ab den 1950er Jahren wurden im und um den SNP Hirsche gefangen und mit farbigen Ohrmarken und Halsbändern ausgestattet, um sie später auf Distanz identifizieren zu können. So fand man heraus, wo sich die Hirsche im Jahresverlauf aufhielten. Ab den 1990er Jahren konnte man dank des technischen Fortschritts auch Halsbänder mit VHF-Sendern einsetzen. Akustische Signale ersetzten die bis dahin notwendige Sichtbeobachtung, um den Standort eines Individuums zu bestimmen. Heute geht das noch viel effizienter: Wir statten die Hirsche mit GPS-Halsbändern aus, die ihre Position stündlich aufzeichnen und die Daten per Satellit direkt ins Büro senden. Ein bedeutender Vorteil davon ist, dass wir die Raumnutzung der Hirsche rund um die Uhr sowie im Jahresverlauf verfolgen können.
Besenderte Hirschkuh mit ihrem Kalb im Hintergrund.
Nationalpark als bevorzugter Sommereinstand bestätigt
Bei den Hirschen der SNP-Region ist der Wechsel zwischen Sommer- und Wintereinständen das häufigste Verhaltensmuster: Hirsche von Wintereinständen ausserhalb des SNP wandern im Frühling gerne in den SNP ein, um dort den Sommer zu verbringen. Von den 111 markierten Individuen nutzten denn auch 78 den Nationalpark ausschliesslich als Sommereinstand. Nur neun verblieben ganzjährig im SNP.
Saisonal bevorzugte Höhenlagen
Bezüglich der Höhenlage würde man erwarten, dass die Hirsche im Winter die tiefsten, im Sommer die höchsten Lagen bevorzugen. Für die Weibchen traf das überwiegend zu. In den tiefsten Lagen auf rund 1650 m ü. M. hielten sie sich jedoch erst Mitte März auf. Die Männchen hingegen stiegen ab November kontinuierlich höher und ihre mittlere Aufenthaltshöhe nahm erst ab Januar wieder ab. Die tiefsten Höhenlagen unter 1600 m ü. M. erreichten auch sie Mitte März. Das macht Sinn, denn zu dieser Zeit apern die Talsohlen der SNP-Region aus. Ab dann folgten beide Geschlechter dem Ergrünen der Vegetation in höhere Lagen. Dieses Phänomen ist in der Literatur als «surfing the green wave» beschrieben. Die Weibchen hielten sich in dieser Phase jedoch immer weiter oben auf als die Männchen. Dabei zogen sie bereits vor dem Setzen der Jungen im Mai/Juni in höher gelegene Gebiete, um trotz den anfänglich noch nicht sehr mobilen Jungen optimale Nahrung nutzen zu können. Im Sommer stiegen die Männchen dann bis auf ca. 2150 m ü. M. auf, während sich die Weibchen ca. 100 Höhenmeter tiefer aufhielten. Zur Brunft ab Mitte September trafen sie sich dann auf ca. 1950 m ü. M.. Nach Mitte Oktober und Höhenlagen um 1800 m ü. M. stiegen die Weibchen bis Ende Jahr nur leicht ab, während die Männchen nochmals die tiefen Lagen vom Frühling aufsuchten. Da die Talwiesen im Herbst immer noch frisches Grün bieten, versuchten sie dort den Gewichtsverlust aus der Brunft zu kompensieren. Im Winter hielten sich beide Geschlechter wieder weiter oben auf. Zum einen brauchen die Hirsche im Winter aufgrund des stark reduzierten Stoffwechsels nicht viel Nahrung, dafür umso mehr Ruhe. Zum anderen können sie in höheren Lagen auch Energie sparen, weil es dort aufgrund der Temperaturinversion wärmer ist als in den Tallagen.
Die Abbildung zeigt die mittlere Höhenlage von weiblichen und männlichen Hirschen im Jahresverlauf (Durchschnitt der Jahre 2009-2025, Stichprobengrösse 111 Tiere). Der helle Farbbereich um die Linien stellt das Konfidenzintervall dar: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % liegt die mittlere Aufenthaltshöhe der Individuen in diesem Bereich.
Literatur:
Haller, H. (2002). Der Rothirsch im Schweizerischen Nationalpark und dessen Umgebung. Eine alpine Population von Cervus elaphus zeitlich und räumlich dokumentiert. Nat.park-Forsch. Schweiz 91.
Rempfler, T., Rossi, C., Schweizer, J., Peters, W., Signer, C., Filli, F., Jenny, H., Hackländer, K., Buchmann, S., & Anderwald, P. (2024). Remote sensing reveals the role of forage quality and quantity for summer habitat use in red deer. Movement Ecology, 12(1).
Sigrist, B., Signer, C., Wellig, S. D., Ozgul, A., Filli, F., Jenny, H., Thiel, D., Wirthner, S., & Graf, R. F. (2022). Green-up selection by red deer in heterogeneous, human-dominated landscapes of Central Europe. Ecology and Evolution, 12(7), 1–13.