Ein Beitrag von Franziska Heinrich, Schweizerischer Nationalpark
15. Oktober 2025
Am 8. Oktober nahm der Botaniker Raphael von Büren das Publikum des letzten NATURAMA-Vortrags dieser Saison mit auf eine spannende Zeitreise in die faszinierende Welt der Pflanzen des Schweizerischen Nationalparks. Er ging dabei insbesondere der Frage nach, wie sich diese und ihre Erforschung in den letzten 111 Jahren verändert haben.
Die Gründung des ältesten Nationalparks der Alpen im Jahr 1914 stand im Zeitgeist einer weltweiten Bewegung. Im Unterschied zu anderen Nationalparks, die als nationale Monumente von besonderer Schönheit erhalten werden sollten zum Wohle und zur Freude der Menschen, war die Vision des Schweizerischen Nationalparks (SNP) eine andere: Die Natur soll sich selber überlassen werden und der Mensch beobachtet, wie sie sich ohne sein Zutun entwickelt. «Von Anfang an stand also auch der Forschungsgedanke im Vordergrund», erläuterte Raphael von Büren, Botaniker und Doktorand am Schweizerischen Nationalpark.
Das Gebiet des SNP war vor seiner Gründung teilweise stark genutzt: Alpwirtschaft, Jagd, Bergbau, Köhlereien und damit verbunden auch Kahlschläge der Wälder im Ofenpassgebiet prägten die Landschaft. Park-Pioniere wie Carl Schröter gingen davon aus, dass die Spuren dieser menschlichen Nutzungen rasch verschwinden würden. Ihnen war aber bewusst, dass nur eine präzise Dokumentation des Ausgangszustandes und eine regelmässige Erhebung der Veränderungen über eine sehr lange Zeit Aussagen dazu erlauben, wie sich der totale Schutz auf die Natur auswirkt.
Botanische Langzeitforschung und lange Zeit Forschende
Josias Braun-Blanquet, heute ein weltweit bekannter Botaniker und Gründer der Pflanzensoziologie, wurde im Jahr 1917 beauftragt, die Veränderungen der Vegetation im Park zu erforschen. Dazu installierte er an verschiedenen Orten Dauerbeobachtungsflächen und erhob auf diesen von 1917–1938 regelmässig alle Pflanzenarten (inkl. Abschätzung Anzahl/Deckungsgrad). Die Flächen wurden mit Holzpflöcken markiert, so dass sie Zentimeter genau wieder aufgefunden und botanisch erhoben werden konnten. Von 1939–1989 führte Balthasar Stüssi diese Forschungsarbeiten weiter. Er ergänzte die Dauerbeobachtungsflächen von Braun-Blanquet auf 160 Flächen total von meist 1 m2. Mit Stüssi’s Tod bestand die Gefahr, dass dieser einmalige Datenschatz für immer verloren geht. Glücklicherweise gelangte sein Nachlass doch noch an die Wissenschaft. Martin Schütz und sein Team konnten Berge von handschriftlichen Aufzeichnungen entschlüsseln und so rund 130 der Flächen vor Ort wieder auffinden und retten. Seit 1994 bis heute betreut Martin Schütz die Dauerbeobachtungsflächen und führt die Vegetationsaufnahmen durch.

Mit Pflöcken markierte Dauerbeobachtungsfläche auf der Alp Stabelchod. Bild von B. Stüssi, 1941 (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Dia_282-1664)
Forschung damals und heute
Auf unterhaltsame Art und Weise zeigte Raphael von Büren auf, dass sich die damaligen und heutigen Botaniker und Botanikerinnen und auch ihre Methoden kaum unterscheiden. Sie teilen die Leidenschaft für Botanik und Forschung. Die Arbeit auf den Knien, die Lupe als wichtigstes Arbeitsmittel und auch die Kamera zur fotografischen Dokumentation der Veränderungen sind grundsätzlich auch gleichgeblieben. «Die grössten Unterschiede betreffen wohl die Mode», schmunzelte von Büren. Er betonte die Wichtigkeit eines strikt eingehaltenen Protokolls bei Langzeitbeobachtungen, damit die Messdaten vergleichbar und ohne methodische Fehler bleiben. Auch machte er deutlich, dass nicht nur wichtig ist, welche Pflanzen auf den Flächen wachsen, sondern eben auch, welche nicht. Dies erfordert ein sehr genaues Hinschauen: Jedes noch so kleine Blättchen muss identifiziert und festgehalten werden. Die Begeisterung und Faszination des jungen Botanikers für seine Arbeit waren deutlich spürbar.

Vor über 100 Jahren und heute: Botaniker am Werk. Bild links/oben: Carl Schröter (links) und Kollegen im Jahr 1920 (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Hs_1360-0433-F) Bild rechts/unten: Raphael von Büren im Jahr 2025 (© SNP/Raphael von Büren)
Wie haben sich die ehemaligen Weiden verändert?
Die Gründer des SNP gingen davon aus, dass die früher alpwirtschaftlich genutzten Flächen rasch wieder von Wald eingewachsen werden. Hier haben sie sich geirrt: Die Flächen sind auch heute noch grossmehrheitlich offen, erst an den Rändern kommt der Wald langsam auf. Dies zeigt eindrücklich, wie langsam gewisse Prozesse in der Natur ablaufen. Schaut man genauer auf die noch offenen Flächen, so zeigen sich deutliche Veränderungen. Auf den ehemaligen Lägerfluren, einer durch den Düngeeintrag der Nutztiere entstandenen spezifischen Pflanzengesellschaft, hat die Pflanzenvielfalt um ca. 10-15 Arten pro Dauerbeobachtungsfläche zugenommen. Von Büren erläuterte, wie anhand der vorkommenden Pflanzen mithilfe von Landolt Zeigerwerten auch Aussagen zum Nährstoffgehalt im Boden abgeleitet werden können. Und dieser hat auf den ehemaligen Lägerfluren stark abgenommen. Trotzdem können wir die Einflüsse des Nährstoffeintrags durch die Alpwirtschaft auch nach über 111 Jahren ohne Nutztiere noch deutlich sehen. Eine Tatsache, die uns im Hinblick auf überdüngte Landwirtschaftsflächen zu denken geben sollte, führte von Büren aus.

Dieses Bildpaar entstand im Rahmen des Refotografie-Projektes des SNP (siehe auch Ausstellung «immer wilder»). Es zeigt die Veränderungen auf der Alp Murter. Im Bild links/oben von ca. 1915 (© Hermann Langen) ist die Dominanz der Alpen-Ampfer (Rumex alpinus) zu sehen. Im Bild rechts/unten aus dem Jahr 2023 (© SNP/Steivan Luzi) sehen wir stattdessen den Blauen Eisenhut (Aconitum napellus) und den Rot-Schwingel (Festuca rubra). Diese Pflanzen zeigen immer noch an, dass der Boden eher nährstoffreich ist.
Gipfelstürmer
Auch die scheinbar lebensfeindlichen, kargen Gipfel im Park waren noch nie vor Botanikern und Botanikerinnen sicher. Denn auch an diesen extremen Standorten leben bestens angepasste Pflanzen. Der Gegenblättrige Steinbrech (Saxifraga oppositifolia) zum Beispiel kommt sehr gut mit kalten Temperaturen zurecht und wurde direkt unterhalb des Doms (Walliser Alpen) auf über 4500 m in Vollblüte entdeckt. Teilweise angeseilt und mit Unterstützung der Parkaufsicht nehmen von Büren und weitere Forschende auch die Gipfel wortwörtlich genau unter die Lupe. Im Vergleich mit früheren Aufnahmen konnte so aufgezeigt werden, dass die Artenzahl auf den Gipfeln zugenommen hat. Hochgestiegen sind wärmeliebende «Allerweltsarten», die den angepassten Spezialisten nun Konkurrenz machen. Grund dafür ist der Klimawandel: Heute ist es auf einem Gipfel durchschnittlich so warm, wie vor 50 Jahren rund 300 m weiter unten. Und vor solchen menschlichen Einflüssen lässt sich der Nationalpark natürlich nicht abschirmen.

Bild links/oben (© SNP/Hans Lozza): Der Gegenblättrige Steinbrech (Saxifraga oppositifolia L.) ist an die extremen Bedingungen auf den Gipfeln angepasst. Er gerät zunehmend unter Druck durch Arten, die dank der Erwärmung höher steigen können. Bild rechts/unten (© SNP): Raphael von Büren nimmt den Gipfel des Piz Foraz genau unter die Lupe.