Ein Beitrag von Eike Lena Neuschulz
Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum, Frankfurt (D)

September 2023

Tannenhäher und Arve leben im Schweizerischen Nationalpark in gegenseitiger Abhängigkeit. Ein einziger Vogel kann in einer Saison bis zu 100 000 Samen verstecken: Daraus spriessen neue Bäume mit einer Lebenserwartung von bis zu 1000 Jahren. Seit rund 10 Jahren untersuchen wir das Zusammenleben zwischen Vogel und Baum in Zeiten schneller Umweltveränderungen.

Titelbild:
Tannenhäher mit Arvensamen im Schnabel

Wer sich im Schweizerischen Nationalpark (SNP) auf Spurensuche begibt, kann sie im August oder September finden: Arvenzapfen, eingeklemmt in eine Astgabel oder deponiert auf einem Baumstumpf (Abb. 1). Es sind die «Schmieden» des Tannenhähers, des wohl prominentesten Vogels des SNP – er ist sogar im Logo des Parks verewigt. Der Tannenhäher lebt in enger Beziehung zur Arve (Abb. 2) und ist für die Baumart von zentraler Bedeutung, da er der Einzige ist, der die dauerhaft geschlossenen Zapfen mit seinem Schnabel öffnen, die Samen herausholen und diese im Boden verstecken kann. Er ernährt sich fast nur von den Samen der Arve. Wenn er früh im Jahr, noch mitten im alpinen Winter, seine Jungen aufzieht, füttert er sie fast ausschliesslich mit Arvensamen, die er aus seinen Verstecken holt. Obwohl viele ihrer Samen vom Tannenhäher gefressen werden, verhilft der Tannenhäher mit seinen Verstecken der Arve zu einer effizienten Ausbreitung.

Strategisches Verstecken der Samen
Nach wie vor ist immer noch eine ganze Menge rund um dieses Zusammenleben zwischen Tannenhäher und Arve unerforscht. Die Beziehung zwischen Tannenhäher und Arve ist beispielsweise gar nicht so harmonisch, wie es auf den ersten Blick erscheint. Der Tannenhäher möchte, dass seine Samen möglichst lange im Boden lagern, bis er sie fressen kann. Somit versteckt er sie an Orten, die für das Anwachsen der Keimlinge eher ungünstig sind. Dies erscheint zunächst sehr unpraktisch für die Arve, denn für sie wäre es besser, wenn ihr Samenausbreiter möglichst viele Samen an Orte bringen würde, wo neue Arven wachsen können. Arven erreichen aber mit 500 bis 1000 Jahren ein stattliches Alter. Und wer so alt wird, dem macht es scheinbar nichts aus, wenn eine ganze Menge Samen aufgefressen werden oder verderben.

Arvenzapfen mit zahlreichen Löchern an den Stellen, wo der Tannenhäher die Arvensamen rausgepickt hat
Abb. 1:
Zapfenschmiede eines Tannenhähers. Der Arvenzapfen ist gut in einem alten Baumstumpf eingeklemmt, damit er beim Herausholen der Samen nicht wegrollt.

Sammelflüge über mehrere Höhenlagen
In unserer Forschung untersuchen wir, wie sich Tannenhäher auf ihren Sammelflügen bewegen. Wer zur Zapfenreife in Arvenwäldern unterwegs ist, sieht die Vögel geschäftig hin- und herfliegen. Den Kropf oft voll mit bis zu 100 Samen, fliegen sie von den Bäumen zu den Orten, wo sie ihre Samenverstecke anlegen, oft über ein Areal in der Grösse von einigen Hektar verteilt. Manche Vögel verstecken die Samen direkt an Ort und Stelle, wo sie in den Arvenwäldern gesammelt wurden. Andere fliegen Distanzen von bis zu 10 km, um ihre Samendepots zum Beispiel in Fichtenwäldern unterer Höhenlagen anzulegen. Über die Beweggründe für diese weit entfernten Verstecke wissen wir noch nicht genau Bescheid. Möglicherweise liegen die Samenverstecke hier näher am Brutgebiet der Vögel oder sind im Winter bei weniger Schnee leichter auszugraben. Zwar gelangen Samen so in Verstecke, wo ungünstige Wachstumsverhältnisse für die Arve herrschen. Für die unbewegliche Arve sind diese Distanzen allerdings beachtlich, der Tannenhäher zeigt sich als sehr effizienter Ausbreiter der Samen.

Vereinzelte Arven und Lärchen - ein typisches Bild für die Baumgrenze im Engadin

Abb. 2: Die Arve ist die Königin der Baumgrenze: Arvenwald im Muot sainza Bön.

Wertvoller Helfer in Zeiten des Klimawandels?
Während der Tannenhäher wegen seiner Mobilität flexibel ist, wächst die Arve äusserst langsam und kann möglicherweise nicht so schnell auf klimatische Veränderungen reagieren. Der Klimawandel wird die Bedingungen in alpinen Ökosystemen, welche besonders sensibel gegenüber auch nur kleinen klimatischen Veränderungen sind, weiter verändern. Wenn die Arve, wie viele andere Pflanzen auch, ihr Verbreitungsgebiet in die Höhe verschiebt, braucht sie dafür die Hilfe des Tannenhähers. Inwieweit sich der Klimawandel auf die enge Beziehung zwischen Vogel und Baum auswirkt, müssen wir noch besser erforschen. Eines ist aber in den Alpen gewiss: Ohne den Tannenhäher keine Arve – und ohne die Arve keinen Tannenhäher.

Literatur:

  • Gugerli, F. et al. (2022): Die Arve – Portrait eines Gebirgswaldbaums. Merkblatt für die Praxis 72. → www.wsl.ch/merkblatt
  • Mattes, H. (1982): Die Lebensgemeinschaft von Tannenhäher und Arve und ihre forstliche Bedeutung in der oberen Gebirgswaldstufe. Ber. Eidg. Anst. forstl. Vers.wes. 241: 1–74.
  • Neuschulz, E. L. et al. (2015): Seed perishability determines the caching behaviour of a food-hoarding bird. J Animal Ecol 84 (1): 71–78.  → https://doi.org/10.1111/1365-2656.12283
  • Neuschulz, E. L., D. Merges, K. Bollmann, F. Gugerli, K. Böhning-Gaese (2018) Biotic interactions and seed deposition rather than abiotic factors determine recruitment at elevational range limits of an alpine tree. Journal of Ecology, 106:948-959. https://doi.org/10.1111/1365-2745.12818
  • Sorensen, M. C., T. Mueller, I. Donoso, V. Graf, D. Merges, M. Vanoni, W. Fiedler, E. L. Neuschulz (2022) Scatter-hoarding birds disperse seeds to sites unfavorable for plant regeneration. Movement Ecology, 10:1-7. https://doi.org/10.1186/s40462-022-00338-1
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