Ein Beitrag von Sonja Wipf, Christian Rossi, Raphael von Büren und Stefanie Gubler
Schweizerischer Nationalpark und SCNAT
13. März 2024
Im Zusammenhang mit dem Klimawandel geht man mit einer Zunahme von extremen Starkniederschlägen und Naturereignissen wie Murgängen aus. Welchen Beitrag zum Lebensraummosaik leisten solche Ereignisse, und wie entwickeln sich die natürlichen Lebensgemeinschaften danach?
Titelbild: Raphael von Büren sucht nach geeigneten Forschungsflächen in der Murgangrinne bei Buffalora
Am späteren Nachmittag des 25. Juli 2022, einem außergewöhnlich warmen Tag mit Höchsttemperaturen von knapp 24 °C auf rund 2000 m ü.M., löste ein lokaler, extremer Gewitterregen am Piz Nair oberhalb von Buffalora einen Murgang aus. Dieser traf innerhalb und ausserhalb der Nationalparkgrenze Wald, Infrastruktur und Strasse. Anhand des Alters der betroffenen Bäume schätzt man, dass sich in dem Gebiet in den letzten 130 Jahren keine solchen Störungen ereignet hatten. Die Niedeschlagssummen unterstützen diese Schätzung: Die meteorologische Station Buffalora registrierte am späteren Nachmittag des 25. Juli 2022 innerhalb von nur 60 Minuten 25,8 mm Niederschlag. Niederschlagsmengen dieses Ausmasses in solch kurzer Zeit treten an diesem inneralpinen, trockenen Standort im Mittel nur alle 50 bis 100 Jahre auf (climate-extremes.ch).
Extreme Niederschläge nehmen zu
Generell hat die Niederschlagsmenge von täglichen Starkniederschlägen in der Schweiz in den letzten gut hundert Jahren um ungefähr 12% zugenommen. Zudem treten extreme Starkniederschläge heute um 30% häufiger auf als noch vor hundert Jahren. Man geht davon aus, dass diese Entwicklung so weitergeht (NCCS 2018): ohne Klimaschutz-Massnahmen erwartet man bis Ende des 21. Jahrhunderts in der Schweiz im Sommer eine weitere Zunahme der stärksten 1-Tagesniederschläge von 10%. Im Winter nehmen diese bis zu 20% zu. Die Zunahme der Intensität von Starkniederschlägen ist physikalisch gut verstanden: wärmere Luft kann mehr Wasser aufnehmen – pro Grad Celsius Erwärmung bis zu 7 Prozent.
Abb.1: Das Murgangereignis vom 25.07.2022 hat Spuren in der Landschaft hinterlassen. Ein Luftbild der swisstopo von 2019 wird mit einer Drohnenaufnahme vom 05.08.2022 verglichen: Über eine grosse Fläche ist der Murgang sichtbar.
Von tabula rasa…
Die vom Murgang transportierten Sedimente ergossen sich über die Waldvegetation und hinterliessen eine scheinbar unbelebte Schlamm- und Geröllmasse (vgl. Titelbild). In einem neuen Projekt erforschen wir seither, wie sich die Umweltbedingungen an den betroffenen Orten verändert haben und wie schnell die Murgangrinnen und -kegel wieder mit Pflanzen und Tieren besiedelt werden. Dazu haben wir Flächen eingemessen, deren Entwicklung wir nun regelmässig untersuchen. Kontrollflächen direkt neben dem Murgang geben einen Eindruck, welche Vegetation hier natürlicherweise vorkommt und welche Arten daher mit erhöhter Wahrscheinlichkeit die Murgangfläche wiederbesiedeln werden.
… zu neuem Leben
Bereits in den ersten Monaten kehrten Waldameisen zurück (vgl. Abb.2). Abgestorbene Bäume liefern ihnen Baumaterial in Form von toten Nadeln. Erwartungsgemäss waren die Gebiete mit viel Ablagerung auch ein Jahr nach dem Ereignis weitgehend vegetationsfrei. Ausnahme bildeten einige winzig kleine Keimlinge (vgl. Abb.3), vor allem von der Bergföhre (Pinus mugo uncinata), einer typischen Pionierbaumart auf Rohboden. In Gebieten mit sehr wenig Ablagerung konnte sich die darunterliegende Vegetation teilweise durch die dünne Schlamm- und Geröllschicht durchkämpfen und eine spärliche Pflanzendecke bilden. Im und um das Anrissgebiet des Murgangs wächst die in der Schweiz sehr seltene Monte Baldo Segge (Carex baldensis). Ob und wie schnell dieses Sauergras die Murgangfläche wiederbesiedeln wird, bleibt abzuwarten. Bildet sich wieder eine geschlossene Vegetationsdecke oder sogar Wald? Wenn ja, wie lange dauert dies? Oder werden auch in Zukunft häufige Starkregen und weitere Murgänge diese Flächen offen halten? Solche Fragen sollen langfristige Beobachtungen beantworten können. Untersuchen werden wir zudem, wie die neu entstandenen offenen Flächen durch Ameisen und Huftiere genutzt werden.
Abb.2: Waldameisen kolonisieren Totholz in Murgangrinne
Abb.3: Bereits kurze Zeit nach dem Murgang keimen erste Bergföhren. An der Spitze ist der Samen noch immer sichtbar.
Abb.4: Die in der Schweiz sehr seltene Monte Baldo Segge (Carex baldensis) wächst im und um das Anrissgebiet des Murgangs.
Literatur:
- NCCS (Hrsg.) 2018: CH2018 – Klimaszenarien für die Schweiz. National Centre for Climate Services, Zürich. 24 S. ISBN-Nummer 978-3-9525031-0-2