Das laufende Jahr neigt sich dem Ende zu – und schon jetzt können wir festhalten: 2024 wird als das bislang wärmste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen in die Annalen eingehen und den bisherigen Rekordhalter (2023) einmal mehr in den Schatten stellen. Das Jahr wird uns wohl auch wegen seiner verheerenden Unwetter und Wetterkapriolen in Erinnerung bleiben. Während der Sommermonate verging gefühlt keine Woche, in der keine heftigen Gewitter, Hochwasser, oder Murgänge verzeichnet wurden. Knapp 40 Jahre nach den katastrophalen Unwettern im Puschlav wurden erneut Teile der Bündner Südtäler, des Tessin und Wallis in Mitleidenschaft gezogen. Wie bereits im Jahr 1987 lag in der Höhe aufgrund ausgiebiger, später Schneefälle noch lange Schnee. Wieder waren die Böden wegen der späten Schneeschmelze und der teils heftigen Gewitter mit Wasser gesättigt. Und wie damals traten auch dieses Mal lokal riesige Murgänge auf, die in ihrem Ausmass viele überrascht haben.
Die Frage, ob die gewaltigen Murgänge im Misox und anderswo so zu erwarten waren, werden die laufenden Unwetteranalysen klären. Sicher ist dagegen, dass sich die Schweiz in einem stets wärmer werdenden Klima vermehrt auf intensivere Niederschläge einstellen muss, die so bislang noch nicht gemessen wurden. Die heftigen Unwetter des vergangenen Sommers zeigen vor allem aber auch, dass wir zwar das Auftreten und die Dynamik der Murgänge heute sehr viel besser verstehen als noch 1987, dass aber nach wie vor zentrale Fragen unbeantwortet bleiben. Gerade hinsichtlich möglicher Auswirkungen des Klimawandels auf die Grösse und Häufigkeit von Rüfen oder möglichen Veränderungen der Gefährdung im besiedelten Raum besteht weiterhin grosser Forschungs- und Handlungsbedarf. Das grosse Bedürfnis nach weiteren Erkenntnissen steht jedoch in krassem Gegensatz zu den momentan bereit gestellten Forschungsmitteln: So sind etwa beim Schweizerischen Nationalfonds die Erfolgschancen von Projekten in den Umwelt- und Erdwissenschaften seit 2013 um 30 beziehungsweise 53% gesunken. Auch beim Bund fehlen in der momentan angespannten Finanzlage Mittel für Projekte, die sich mit den Auswirkungen des Klimawandels auf Naturgefahrenprozesse befassen.
Für die Murgangforschung ist der Nationalpark ein eigentliches Freiluftlabor – die Bilder stammen aus der Val Mingèr
und zeigen aktive Murgangrinnen im Bereich des Lavinar Grond. (Fotos: SNP/Hans Lozza)
Kleinräumig findet die Forschung zu Murgängen und deren Verhalten in dem sich ändernden Klima dagegen statt, auch im Kanton Graubünden: Im Schweizerischen Nationalpark laufen momentan umfassende Analysen zum Auftreten der Rüfen unter natürlichen Bedingungen. Hier gilt, im Gegensatz zum Rest der Schweiz, der absolute “Schutz der Prozesse”, so dass Murgänge ohne menschliches Korsett und damit ungebremst talwärts fliessen. Für die Murgangforschung ist der Nationalpark mit seinen zahlreichen Gräben und Rinnen ein eigentliches Freiluftlabor, in welchem seit fast 40 Jahren alle Murgänge dokumentiert und die auslösenden Niederschläge beschrieben werden. Bei einem Prozess, der in der Regel nur alle paar Jahr(zehnt)e am selben Standort auftritt und daher Gefahrenabschätzungen erschwert, sind solche Datenbanken und die Interpretation der Ereignisse und auslösenden Niederschläge von unschätzbarem Wert. Und eine weitere Dienstleistung des Schweizerischen Nationalparks an die Gesellschaft, die weit über den strikten Schutz des Gebiets oder Erholungsraum für die Menschen hinausgeht und zu einer etwas weniger riskanten Zukunft der Gesellschaft in Graubünden beitragen kann.
MARKUS STOFFEL ist Professor für Klimafolgen und Naturrisiken im Anthropozän am Institut für Umweltwissenschaften der Universität Genf. Seit 2020 ist er ausserdem auch Präsident der Forschungskommission des Schweizerischen Nationalparks und interessiert sich daher gerade auch für den Klimawandel und die sich verändernden Naturgefahrenprozesse im und rund um den Schweizerischen Nationalpark.
Der Schweizerische Nationalpark im Engadin ist Mitglied der Academia Raetica, der Vereinigung zur Förderung von Wissenschaft, Forschung und Bildung im Kanton Graubünden und seiner Umgebung. Zu ihren Mitgliedern zählen dreissig forschende Institutionen und Hochschulen. www.academiaraetica.ch