Ein Beitrag von Raphael von Büren (Schweizerischer Nationalpark/Universität Basel) und Helene Hinze (Universität Greifswald)
Seit 111 Jahren ist der Schweizerische Nationalpark sich selbst überlassen. Wo einst Alpwirtschaft, Jagd und Holznutzung dominierten, prägen mittlerweile Wildtiere wie Rothirsche und natürliche Prozesse die Landschaft. Wie wirken sich die Nutzungsveränderungen und der Schutz auf die Vegetation aus? Das untersucht nun ein Forschungsprojekt mit über 600 Vegetationsflächen innerhalb und ausserhalb des Schweizerischen Nationalparks.
Berglandschaften, wie wir sie heute kennen, weisen deutliche Spuren menschlicher Nutzung auf. Besonders die Beweidung durch Nutztiere wie Rinder und Schafe hat das Landschaftsbild in den Alpen über Jahrhunderte geprägt. So entstanden vielerorts weitläufige Graslandschaften mit einer hohen Artenvielfalt und vielen Pflanzen, die daran angepasst sind, gefressen zu werden. Nicht nur die Beweidung durch Nutztiere kann solche Effekte haben. Ähnliche Effekte können auch von wildlebenden Herbivoren, also pflanzenfressenden Tieren, ausgehen. Beispielsweise können Rothirsche die Vegetationszusammensetzung in Wäldern und im Offenland beeinflussen. Was geschieht also, wenn die menschliche Landnutzung wegfällt und stattdessen Wildtiere zurückkehren? Oder anders gefragt: Wie unterscheidet sich ein Gebiet, das seit über 100 Jahren sich selbst überlassen ist, von der umliegenden Landschaft, die weiterhin genutzt wird?

Raphael von Büren bei der Vegetationsaufnahme auf einer 1m2-Untersuchungsfläche innerhalb des Schweizerischen Nationalparks in der Val Mingèr (© SNP/Hans Lozza)
Die Auswahl der Flächen-Paare
Um den Einfluss von wilden im Vergleich zu domestizierten Herbivoren auf die Vegetation zu untersuchen, erfassen wir Vegetationsdaten auf über 300 Flächen-Paaren, also je einer Untersuchungsfläche innerhalb und ausserhalb des Schweizerischen Nationalparks (SNP). Dabei ist entscheidend, dass sich die zwei Flächen eines Paares in ihren Umweltbedingungen möglichst ähneln. Nur so lassen sich Unterschiede in der Vegetation tatsächlich auf die unterschiedliche Beweidung, beziehungsweise auf den Einfluss von Totalschutz versus Landnutzung, zurückführen. Bei den Umweltbedingungen haben wir die Höhe, Hangneigung, Exposition, Geologie, das Waldvorkommen und die mikrotopographische Lage – also ob die Fläche auf einem Rücken oder in einer Mulde liegt – berücksichtigt. Auch die historische Nutzung haben wir bei der Auswahl miteinbezogen: Eine Fläche im Park, die auf einer ehemaligen Nutztier-Weide liegt, vergleichen wir mit einer Aussenfläche, die eine ähnliche Nutzungsgeschichte aufweist.

Eine 1m2-Untersuchungsfläche ausserhalb des SNP in der Val Mora mit 59 verschiedenen Pflanzenarten (© SNP/Raphael von Büren)
Vegetation und Tier-Kot messen
Die Untersuchungsflächen sind je ein Quadratmeter gross. Auf jeder Fläche erfassen wir sämtliche vorkommende Pflanzenarten und schätzen ihre Deckung – also wie viel Prozent der Fläche die jeweilige Art bedeckt. Ergänzend dazu erfassen wir das Vorkommen und die Dichte der wilden und domestizierten Herbivoren mithilfe sogenannter Kottransekte. Dazu schreiten wir von der Vegetationsfläche aus in jede Haupt-Himmelsrichtung je 10 Meter lange und 1 Meter breite Transekte ab. Innerhalb dieser Streifen zählen wir den Kot von den häufigen grossen Herbivoren, sprich Rothirschen, Gämsen, Steinböcken, Kühen und Schafen.
Die Datenerhebung erfolgt in den Jahren 2024 bis 2026. Die im Jahr 2026 beginnende Analyse der Daten wird aufzeigen, wie sich die Vegetation unter dem Einfluss verschiedener Arten von Beweidung unterscheidet – und welchen Einfluss der Totalschutz im Nationalpark auf die lokale Vegetation hat.
Das Forschungsprojekt ist Bestandteil der Dissertation von Raphael von Büren am Schweizerischen Nationalpark und an der Universität Basel.