Kaum ein anderer Vogel sorgt im Nationalpark für so viel Interesse wie der Bartgeier.

Der Bartgeier wurde im 19. Jahrhundert in den Alpen ausgerottet. Dieser früher fälschlicherweise als Räuber und «Lämmergeier» verschriene Vogel lebt in Wirklichkeit von Aas und Knochen. Seine Krallen sind nicht für den Beutefang geeignet. Historische Darstellungen unterstellen dem «Lämmergeier» räuberisches Verhalten. Sogar Kindsraub wurde ihm angelastet. Die imposante Spannweite von fast 3 Metern mag dafür verantwortlich gewesen sein, dass der Bartgeier als bedrohlich empfunden und dementsprechend verfolgt wurde.

Bartgeier ernähren sich primär von Knochen. Diese enthalten einen hohen Anteil an Fett und Eiweiss. Grössere Knochen lassen die Vögel aus grosser Höhe auf Steinplatten fallen, wo sie zersplittern. Der Bartgeier besetzt mit dieser Strategie eine ökologische Nische, die ihm niemand streitig macht.

Seit 1986 werden in den Alpen im Rahmen eines internationalen Projekts wieder Bartgeier ausgesetzt, 1991 erstmals auch im Nationalpark. Mehr zur Wiederansiedlung im Nationalpark erfahren Sie → hier.

Mit diesen Aussetzungen soll die Lücke zwischen den Pyrenäen und dem Balkan wieder geschlossen werden. Weitere Aussetzungsorte sind das Rauristal in Österreich, Hochsavoyen und der Nationalpark Mercantour in Frankreich sowie seit 2000 das Martelltal im Nationalpark Stilfserjoch in Südtirol.

In der Val da Stabelchod im Schweizerischen Nationalpark wurden von 1991 bis 2007 insgesamt 26 junge Bartgeier aus Zuchtstationen ausgewildert. Von diesen 26 haben sich mindestens 11 gepaart und fortgepflanzt. Ein Paar bei Livigno, bestehend aus Moische und Cic (1991 und 1993 im Schweizerischen Nationalpark freigelassen), ist noch immer zusammen und hat über die Jahre insgesamt bereits 21 Jungvögel aufgezogen.

In den letzten Jahren hat es glücklicherweise im Engadin und im Grenzgebiet zu Italien mehrere natürliche Bruten gegeben. Deshalb werden im Nationalpark keine Bartgeier mehr ausgewildert. Mehr Informationen zum Bartgeier finden Sie im Nationalparkzentrum in Zernez oder unter www.bartgeier.ch.

Junge und erwachsene Bartgeier unterscheiden sich in ihrer Färbung erheblich.

Junge Bartgeier haben durchwegs eine dunkle, braungraue Färbung. Erst im Alter von 3 bis 4 Jahren werden Kopf und Brust hell. Männchen und Weibchen unterscheiden sich praktisch nicht.

Die rötliche Färbung der erwachsenen Bartgeier ist ein besonderes Merkmal. In einem Ritual färben sie sich in eisenoxydhaltigen Tümpeln ein.

Brut mitten im Winter

Bartgeier brüten meist im Januar, die Jungen schlüpfen nach rund 55 Tagen im März. Die ausgewachsenen Tiere verfügen über eigentliche Daunenhosen, mit denen sie die Eier warm halten. Bei Aussentemperaturen von bis zu -30 Grad C ist dies auch dringend notwendig. Dieses auf den ersten Blick seltsame Verhalten macht durchaus Sinn: Die Jungen brauchen in ihrer ersten Lebensphase Muskelfleisch als Nahrung, da sie Knochen noch nicht verdauen können. Fleisch finden die Eltern Ende Winter in Form von Kadavern. Zudem haben die Jungen eine längere Lernzeit bis zum nächsten Winter vor sich, was ihre Überlebenschancen erhöht.

Bartgeier-Eier haben eine stattliche Grösse und wiegen 200 bis 250 g. Das Weibchen legt meistens zwei Eier. Das erste Jungtier schlüpft mehrere Tage vor dem zweiten und tötet dieses in den ersten Lebenswochen. Dieses Verhalten wird als «Kainismus» bezeichnet. Mit dem zweiten Ei hat die Natur eine Reserve eingebaut, falls mit dem ersten etwas nicht in Ordnung wäre. Mit der Aufzucht von zwei Jungen wären die Eltern überfordert.

Weiterführende Informationen:

 

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